Mit Brüchen vertraut
Katja Lange-Müller ist eine Meisterin der Lebendigkeit. Sie versteht sich auf sinnliches Erzählen, auf das Anschauliche. Schon in „Verfrühte Tierliebe“ (1995) kriecht einem der Geruch des Schauplatzes in die Nase: es riecht nach Schokolade, die früher in der Schule produziert wurde. Doch obwohl Ratten auf dem Schulhof ihr Unwesen treiben und die Eiche von Goldafterraupen kahl gefressen wird, ist all das nichts gegen den Laienzoologen Bisalzki mit seiner hellen „wie Senfgläser im Spülwasser klingenden Stimme“, mit der er die eingelegten Schlangenkadaver und Reptilienskelette als „Trüffelstücke seiner Kollektion“ anpreist. Viele Jahre später hat man in „Böse Schafe“ (2007) den schlingernden Harry mit seiner „stolzen Eisbärmiene“ förmlich vor sich, wie er die Erzählerin Soja mit seiner Kodderschnauze um den Finger wickelt und ihr verschweigt, dass er ein Ex-Junkie ist und nicht vorhat, ein besserer Mensch zu werden. Andere Male hockt man mit Katja Lange-Müllers Figurenschar in Moabiter Kneipen, vertilgt einschlägige Gerichte, stromert durch Hinterhöfe, hakt eine der mittelalten Damen in plüschigem Pullover unter oder steht einem sterbenden Hund bei. Dann wieder betritt man in „Drehtür“ (2016) mit der Krankenschwester Asta nach einem Einsatz in Nicaragua den Flughafen und hat Teil an ihren Erinnerungsschüben. Ob ein zahnschmerzgeplagter koreanischer Koch in Ost-Berlin oder ein begabter Maler, dem im Westen der Stadt direkt nach einer spektakulären Vernissage sämtliche Gemälde gestohlen werden, es wimmelt von prägnanten Gestalten und eindringlichen Milieustudien.
Katja Lange-Müller, 1951 in Ost-Berlin geboren, ist aus ihrem eigenen Leben mit Brüchen vertraut, ohne Aufhebens davon zu machen. Aus reinem Selbstschutz wandte sie sich von ihrer Mutter Inge Lange ab, einer überzeugten DDR-Politikerin und Funktionärin. Dass sie schon mit 16 wegen „unsozialistischen Verhaltens“ von der Schule flog, war ein Ehrenzeichen. Das Gespür für Machtverhältnisse hat sie sich bewahrt. Sie lernte Schriftsetzerin, arbeitete als Bildredakteurin bei der Berliner Zeitung, ging nach einem Intermezzo als TV-Requisiteurin als Hilfspflegerin in die geschlossene Psychiatrie, begann 1979 ein Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, absolvierte einen einjährigen Studienaufenthalt in der Mongolei, kam in einer Teppichfabrik unter und veröffentlichte heimlich Kurzprosa, bis sie 1984 aus der DDR nach West-Berlin ausreiste.
Immer wieder sind es die Mühseligen und Beladenen, die Katja Lange-Müller in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen und Romane stellt, randständige Menschen, die mit ihren Problemen die gesellschaftspolitische Lage auf den Punkt bringen. Saloppe Tonlagen wechseln mit stilistisch ausgefeilten Passagen, untergründig wirkt ihr unverwüstlicher Humor. In ihrem neuen Roman „Unser Ole“ erzählt sie von drei Frauen, allesamt Töchter abweisender Mütter, deren Schicksale sich auf überraschende Weise verknoten. Die vom Leben zerschlissene Schönheit Ida, Gelegenheitsmodel bei Modenschauen für Senior*innen und ohne feste Einkünfte, zieht bei ihrer Freundin Elvira ein, die Unterstützung bei der Versorgung ihres autistischen Enkels Ole braucht. Als nach einem fatalen Ereignis dessen Mutter Manuela aufkreuzt, ist die Encounter-Gruppe perfekt. Katja Lange-Müllers Blick auf die Versehrten steckt voller komischer Melancholie und ist immer wieder neu und überraschend.
Maike Albath
aktuell: Unser Ole. Roman. KiWi. Köln, 5. Sep 2024