Was heißt es, als Zehnjähriger vom Krieg überrascht und auf einmal aller Gewissheiten beraubt zu werden? So erlebt es der Ich-Erzähler in Tijan Silas Roman „Radio Sarajevo“, einem literarischen Kriegsprotokoll aus der Perspektive eines kleinen Jungen, das die Belagerung Sarajevos während des Jugoslawienkrieges zum Gegenstand hat. Der Alltag der zurückgebliebenen Freunde ist zwar unübersichtlicher und gefährlicher geworden, aber auch aufregender. Die Erwachsenen hingegen scheinen durchzudrehen. Von dieser grundlegenden Verwirrung handelt auch der Romanauszug, mit dem Tijan Sila in diesem Sommer den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann: „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ lautet der Titel. Es geht um die Folgen dieses Krieges, um das, was sich im Inneren der Menschen ablagert und bizarre Formen annimmt. Während der Vater zu einem manischen Einkäufer von ausrangierten Plattenspielern und Radiogeräten geworden ist, in jeder verfügbaren Ecke der Wohnung Elektroschrott anhäuft und als Reparateur ein Geschäft aufziehen will, stürzt die Mutter in einen tiefen Wahn. Nur der Ich-Erzähler bleibt der Wirklichkeit verhaftet – es gelingt ihm, sich selbst mit einer Formel zu beschwichtigen: „Bleib da“, flüstert er sich zu. Zuerst auf Bosnisch, später auf Deutsch.
Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, kam als dreizehnjähriger Kriegsflüchtling nach Deutschland. Dass sich autobiografische Erfahrungen in Literatur ummünzen lassen, stellt er eindrucksvoll unter Beweis. (M. A.)
Auszeichnungen u. a.: Märkisches Stipendium für Literatur (2018), Literatur-Stipendium des Landes Rheinland-Pfalz (2019), Arno-Reinfrank-Literaturpreis (2021), Ingeborg-Bachmann-Preis (2024).
Veröffentlichungen (zuletzt):
– „Tierchen unlimited“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017
– „Die Fahne der Wünsche“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018
– „Krach“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021
– „Radio Sarajevo“, Hanser Berlin, 2023
– „Lila Leuchtfeuer. Geh nicht nach Nimmeruh!“, zus. mit L. Schneider, Beltz & Gelberg, Weinheim 2024