Wie sich Schreiben und Lesen zueinander verhalten
Kairos, das ist in der griechischen Mythologie der Gott des rechten Augenblicks, des Momentes, der am Schopf gefasst werden muss. Für Jenny Erpenbeck kam der rechte Augenblick im Mai dieses Jahres, als sie als erste Deutsche den renommierten International Booker Prize gewann. Zusammen mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann wurde sie für „Kairos“ (2021) ausgezeichnet.
Der Roman erzählt von der Liebesbeziehung einer jungen Studentin mit einem sehr viel älteren Schriftsteller. Sie begegnen sich 1986 in einem Bus in Ostberlin: „Und da sah sie ihn. Und er sah sie.“ Eine Seite später steht da: „Und er antwortete ihr: Trinken wir einen Kaffee? Und sie sagte: Ja. Das war alles. Alles war so gekommen, wie es hatte kommen müssen.“ So klingt das bei Jenny Erpenbeck, wenn große Dinge geschehen. Allerdings mit Zeilensprüngen, die bei ihr sehr bewusst gesetzt sind und wörtliche Rede markieren, Gedankenpausen, einen Rhythmus vorgeben.
Seit Jenny Erpenbeck 1999 die literarische Bühne betrat, steht sie für einen unverkennbaren Ton. Ein Jenny Erpenbeck-Klang, den man bei jedem neuen Buch wiedererkennt: unprätentiöse Sprache, ein kluges Verhandeln von existenziellen Nöten, Reprisen von Symbolen oder Satzkonstruktionen, ein ernster, tiefer Resonanzraum. Ihr Debüt, die „Geschichte vom alten Kind“, erzählte von einem stummen, dicken Kind, einem rätselhaften Mädchen mit einem leeren Eimer, das eines Tages auftaucht und dessen Herkunft „derart von Nichts umgeben (war), dass seiner Existenz von Anfang an etwas Unglaubliches anhaftete.“ Ein Prosa-Aufschlag, der einige Interpretationsmöglichkeiten eröffnete, manche lasen die Geschichte als Parabel auf die Verlorenheit Ostdeutschlands nach der Wende.
Oft wird Jenny Erpenbeck als Autorin „ostdeutscher Themen“ bezeichnet, doch das verengt den Blick auf ihre viel universelleren Bücher. Als die Mauer fiel, war sie Anfang zwanzig und lebte in Ostberlin. Ihre Themen – u. a. Herkunft, Identität, Verluste – sind international. In „Heimsuchung“ (2008) erzählte sie anhand eines Hauses an einem märkischen See die Geschichte eines Jahrhunderts. Der Roman, der die Nöte und Sorgen der Bewohner*innen im Laufe der Zeit verhandelt, wird ab diesem Herbst Pflichtlektüre für Abiturklassen.
In ihrer Kolumne „Dinge, die verschwinden“ verabschiedete sie in der FAZ einst Alltägliches: Socken, Öfen und Kohle, die Höflichkeit, Tropfenfänger oder Splitterbrötchen, die Mitte von Nirgendwo oder einfach: Erinnerungen. Die große Bandbreite der verschwindenden Phänomene steht exemplarisch für Erpenbecks Umgang mit Geschichte und Geschichten: Vermeintliche Kleinigkeiten können sich historisch aufladen, das Individuelle ist ein Rädchen, das das große Ganze verändert. Doch die Handlungsspielräume von Erpenbecks Figuren sind begrenzt, von politischen Systemen und dem Zufall. In „Aller Tage Abend“ (2012) erzählt sie fünf mögliche Biografien eines Mädchens – in einer Version stirbt sie bereits als Baby, in einer anderen als Kommunistin in Moskau, in einer weiteren als hochbetagte, erfolgreiche DDR-Schriftstellerin.
In den Roman „Gehen, ging, gegangen“ (2015) flossen Erpenbecks Erfahrungen mit jungen Geflüchteten aus Afrika ein, die sie seit vielen Jahren selbst unterstützt. Zuletzt hat sich die Autorin das Leben der österreichischen Lyrikerin Christine Lavant vorgenommen. Vordergründig ein Buch über die Strickerin aus Kärnten, doch gleichzeitig ist „Über Christine Lavant“ (2023) das Abklopfen einer Frage, die sich auch Erpenbeck immer wieder von Neuem stellt: wie sich Schreiben und Leben zueinander verhalten.
Anne-Dore Krohn
aktuell: Kairos. Roman. Penguin. München, 2021